KONTEXT
SCHPHÄREN
"Geometrie und Zeit"
"Alle Sonnenuhren sind rückwärts gegangen und zeigen auf Null."
Dieser Satz ist einer Alptraumaufzeichnung des Dichters Jean Paul entnommen. Darin beschreibt er die Begegnung des Träumenden mit Bildern des Grauens vor dem Hintergrund einer Welt der reinen geometrischen Formen.
Was geschieht, wenn die Sonnenuhren rückwärts gehen?
Der Gang der Sonnenuhr kann als Symbol für den endlichen Charakter alles Lebendigen gesehen werden: Es steigt auf, wächst, sinkt und stirbt wieder.
Was geschieht, wenn die Sonnenuhr rückwärts geht, können wir uns nur metaphorisch vorstellen: Die Bewegung wird aus ihrem natürlichen Gang zurückgedreht, aus dem Leben herausgedreht, bis sie in der vollkommenen Abstraktion, im Nullpunkt des Wechsels, zum Stillstand kommt.
Hier befindet sich der Eingang zur Welt der geometrischen Figuren. Die Begegnung mit dieser Welt hat etwas Faszinierendes und Erschreckendes zugleich. Die mathematische, kalte Unendlichkeit der Formen,das immergleiche Um-sich-selber-Kreisen der reinen Abstraktion erregt das Staunen des lebenden Einzelnen, zugleich erzeugt es aber auch die alptraumhafte Angst, im ziellosen, zeitlosen, labyrinthisch auswegslosen, absolut determinierten, unendlich perpetuierten Kreisen der Formen zermalmt zu werden.
"Ich sah die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Weltenall gelangert hatte, - und die Ringe fielen nieder und sie umfasste das All doppelt - und dann wand sie sich tausendfach um die Natur - und quetschte die Welten aneinander - und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltengebäude zersplittern", schreibt Jean Paul. In den Figuren der Geometrie ist das Ungeheure mit dem Nichts verschränkt, die höchste Wirklichkeit mit der absoluten Negativität.
Sind die reinen geometrischen Formen nur von uns erdacht, nur konstruiert? Oder handelt es sich um eigenständige Wesenheiten? Sind die reinen Formen, deren "Abbilder" - platonisch gesprochen - in allem Lebenden zu finden sind, das Ziel und die erstrebte Vollkommenheit des Lebens? Oder sind sie in ihrer gleichförmigen Vollkommenheit der Gegensatz des Lebens, das ja immer unvollkommen, endlich, sterblich ist?
In diesem Gegensatz liegt die Faszination, die von den geometrischen Figuren ausgeht. Im Bereich der Kunst ist es möglich, die Sonnenuhren rückwärts gehen zu lassen.
Scha Sabbtai Tuysserkanik, Oktober 2016
ATOPISCHE TÜRME
"Ortlosigkeit und Raum"
Der Begriff des Raumes wird in diesem Zusammenhang als kein fixiertes Umfeld, sondern als von der Existenz des Turmes ausgehend begriffen. Der Raum ist also nicht bereits in einen weiteren Raum, eine Landschaft, eine Region oder eine von Menschen geschaffene Struktur, wie z.B. ein Land, integriert, sondern entsteht mit der Erscheinung des Turmes.
Die Türme erscheinen zugleich als Ver- und Enträtselung unserer Betrachtung:
Wie in uns Menschen sehen wir in ihnen Extravertiertes und Introvertiertes, Mutiges und Scheues, prahlerischen Glanz und verhaltene Schatten.
Diese Türme sind von ihrer symbolischen Funktion erlöst: Sie sind keine Wach-und Wehrtürme, keine prunkvoll zur Schau gestellte Macht eines Herrschenden. Davon wurden in unserer Geschichte unzählige erbaut. Auch sind ihre Formen ohne Bezug auf vergangene Epochen und deren Kontexte, Architekten und Bauherren. Stattdessen laden sie dazu ein, neue Deutungsfelder und Betrachtungsweisen zu erfinden.
Persische Stilelemente, die ebenso keinem ferneren Zweck als ihrer Ästhetik entspringen, lieferten die Inspiration, konvexe und konkave Formen weiterzuentwickeln. So entstand z.B. die Pseudomuqarnas – eine Neuinterpretation des Stalaktitengesims Muqarnas.
Es sind Türme, die sich selbst zur Beobachtung anbieten. Als ein Phänomen, das entsteht, wenn Fixiertes und Sichtbares auf Phantastisches und Unsichtbares trifft.
Wo diese Türme erscheinen, steht die Zeit still.
Scha Sabbtai Tuysserkanik, August 2019